Seit seinen künstlerischen Anfängen betrachtet Hiwa K (*1975 in Sulaymaniyah, Irak) seine persönliche Position als kurdisch-irakischer Exilant und Intellektueller. In vielen Arbeiten problematisierte er die Fremdheit zu seinem Publikum im Exil, die häufige Unvermittelbarkeit von existentiellen Fragen und die grundsätzliche Ferne zwischen Menschen, die beispielsweise in Deutschland oder aber im Irak bzw. im Nahen Osten aufwuchsen und leben. Hiwa K studierte in Sulaymaniyah Literatur und Philosophie. Als Musiker gewann er enge Kontakte zum Rheinland und lebte für einige Zeit in Düsseldorf. Danach studierte er bildende Kunst und erregte in der Akademie Aufmerksamkeit mit Studienarbeiten, die seinen Status eines der westlichen Kultur und Geschichte fernstehenden, fremden und ‚fremdelnden‘ Intellektuellen thematisierten. Für mehr als ein Jahr hielt er in der Akademie die Wand, die für seine Arbeiten vorgesehen war, leer und weiß, überstrich und reinigte sie nur immer wieder (Arbeitsplatz, 2005) und machte sie gewissermaßen zur offenen Stelle dieser Akademie: als Verweis auf seine Herkunft außerhalb des westlichen Kunstwelt und ebenso als Kommentar zu deren Überproduktion.
Langzeitarbeiten und generell wenige Objekte mit sehr spezifischen, zeichenhaften Produktionen sind charakteristisch für Hiwa K, ebenso die Reflexion der heutigen Gegenwart und ihrer Geschichte. Der Titel seiner Ausstellung für das Museum Abteiberg, „All Cities Have Destruction in Common“ zu deutsch „Allen Städten ist die Zerstörung gemein“, ist ein großes Bild für die Zusammenhänge, die er in Mönchengladbach mit einigen früheren und einer ganz neuen filmischen Arbeit herstellen will. Er geht zurück auf eine Arbeit, die er für die documenta 14 in Kassel produzierte und nun auch in Mönchengladbach zu sehen sein wird: View from Above (2017), eine Kamerafahrt über das Trümmermodell von Kassel 1945 im dortigen Stadtmuseum, die von einem Audiostück begleitet wird, das von den Tests der Ortskenntnisse bei Asylbewerbern aus unsicheren Zonen handelt und eine absurd wirkende Fiktion erzählt.
Im Zentrum der Ausstellung für das Museum Abteiberg wird Raw Materiality stehen. Es ist das Material seiner langjährigen, vielleicht gar absolut zentralen Auseinandersetzung mit philosophisch-gesellschaftlicher Theorie, die er bei jeder Reise zurück in den Irak unternimmt und zum großen filmischen Komplex einer Langzeitstudie angewachsen ist. Es sind Interviews in der Szene kurdischer Intellektueller im Irak. Er lässt sie über ihre Vergangenheit und ihre Diskussionen der 1970er- und 1980er-Jahre sprechen, intellektuelle Auseinandersetzungen in der Zeit, als in einer schlüsselartigen Verbindung zur Philosophie des Existentialismus einerseits der Individualitäts-Glaube des Neoliberalismus, andererseits der Pessimismus über die Entwicklung der gesellschaftlichen Situation wuchs. Der Begriff des ‚Geworfenseins‘, von dem Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Simone de Beauvoir sprachen, war in diesen Diskursen ein enorm wirksames, plastisches Bild für die Auseinandersetzung mit der individuellen und gesellschaftlichen Situation im Nahen Osten, speziell in der Universitätsstadt Sulaymaniyah, wo in den 1970er-Jahren der einflussreiche existentialistische Philosoph Muhammad Kamal, heute Professor in Melbourne, lehrte. Die Gesprächspartner:innen von Hiwa K berichten aus der Perspektive ihres heutigen Exils oder ihrer anhaltend unsicheren Lage im Nord-Irak, gehen aus der Gegenwart zurück in die Geschichte der vergangenen fünfzig Jahre bzw. des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten. Sie rufen den Kalten Krieg, den Iran-Irak-Krieg 1980–88, die beiden Golfkriege in Erinnerung und demonstrieren mit ihrer heutigen Situation, ihrer gealterten Erscheinung, ihrem gegenwärtigen Umfeld gleichermaßen vergangene und aktuelle Dimensionen ihres Denkens.
Hiwa K zeigt mehr als achtzehn Stunden Film aus dem Irak und bringt sie in eine Darstellungsform, die das Publikum im Museum Abteiberg sowie an mehreren weiteren für die Jahre 2021ff geplanten Orten herausfordern wird. Sein Konzept besagt, dass das Museum nicht nur das gesamte Material ausstellt, sondern auch eine Person auswählt, die es schneidet, auswertet, ediert, kürzt und gewichtet. Es entsteht ein filmisches Experiment, das von medialen Phänomenen handelt, die uns gerade heute täglich beschäftigen: Schnitte, Zu- und Ausschnitte von Information, Mengen von Geschichte und Gedanken, deren Hörbarkeit, Erreichbarkeit, Öffentlichkeit oder Isolation. Das Konzept des Filmschnitts wird dabei zum Sinnbild für das, was im Hintergrund aller Äußerungen der porträtierten Intellektuellen liegt: der Irak bzw. der Nahe Osten als Ort und Material anderer Mächte, als ‚raw material‘ für die Interessen anderer, einer ebenso formal wie metaphorisch operierenden Übernahme dieser historischen Konstante überlässt Hiwa K sein filmisches Rohmaterial anderen Menschen zum Schnitt, zur Auswahl und Interpretation.
Das Ausstellungs- und Filmprojekt mit anschließendem Ankauf wurde gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW und der Hans Fries Stiftung.