Das Werk des rumänischen Künstlers Mircea Cantor (*1977 in Oradea) handelt von der heutigen Zeit und erzeugt für deren Deutung unerwartet neue eindringliche Bilder. Es handelt von Gesellschaft, Politik und der globalisierten Gegenwart mit ihren vielfach gebrochenen, widersprüchlichen Realitäten. Und von menschlichen Utopien, Glaubens- und Glücksversprechen, die uns vielfach als kaum mehr glaubwürdig oder gar komplett vergangen erscheinen: Sie kehren in Cantors Werk wieder als irritierende atavistische Kräfte, durch die sich sowohl Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als auch die unterschiedlichen Orte der heutigen Welt unauflösbar miteinander verketten.
Es herrscht eine auffällige Präsenz von „armen“ und „primitiven“ Mitteln und von einfachen menschlichen Gesten, Cantor setzt anthropologisch lesbare und empathische Medien ein: einfache Materialien, gebastelte Formen, handwerkliche Techniken, Texte und Zeichnungen aus Kerzenruß oder Lippenstift, Fingerabdrücke auf der Wand. Sie sind der Arte Povera und Prozesskunst aus den 1960er- und 1970er-Jahren verwandt, entwickeln jedoch vor dem Hintergrund der heutigen Realität, in der Cantor seine Beobachtungen begann, eine veränderte, aktuellere Aussage: Einerseits ist alles, was hier erscheint, in eben jener real erlebten Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit zu verstehen, andererseits ist genau dies ein Phänomen, das über biografische bzw. kulturelle Zusammenhänge hinausweist, d.h. nicht von einem konkreten Fundort, sondern von einem allgemeineren menschlichen Geschehen spricht und zu einer Parabel wird.
Cantors parallele Lebensorte, Paris und Rumänien, und sein ständiges Wechseln zwischen diesen und anderen Welten bewirken dabei ein kritisches Verhältnis zur heutigen Bedeutung von Kunst, ein Plädoyer für eine eher ephemere Existenz: weder auf ein bestimmtes Medium rückführbar, noch auf eine wiederkehrende Form oder Ästhetik, sondern vielmehr auf eine innere Ökonomie von punktuellen und „notwendigen“ (M. Cantor: „necessary“) Aussagen. Dies erklärt auch, warum Cantor seine Arbeiten stets in der Art einer Retrospektive wiederkehren lässt: Er wendet sich gegen den Druck, stets neue Arbeiten zu produzieren und agiert entlang einer eigenen Setzung von innerer Notwendigkeit: „ … der Notwendigkeit, etwas zu tun, und ebenso der Notwendigkeit, sich zu verweigern“ (M. Cantor).
In der Begegnung mit einem Werk wie dem von Mircea Cantor entsteht eine Spannung, die sich aus solch rigider, vermeintlich überkommener Grundsätzlichkeit erklärt: „Ich bin nicht daran interessiert, Antworten zu finden, sondern nur daran, Fragen zu identifizieren, die in einem bestimmten Moment zu stellen sind.“ (M. Cantor)
Mircea Cantors Titel KLUG WIE DIE SCHLANGEN UND EINFÄLTIG WIE DIE TAUBEN (vgl. Math. 10.16) fasst die tiefgründig ambivalente Parabel seiner Sujets zusammen und verbindet rund dreißig Arbeiten, die im Museum Abteiberg zu Cantors bislang größter Einzelausstellung zusammen kommen. Gezeigt werden Skulpturen und Installationen (u.a. „Monument for the End of the World“, „Seven Future Gifts“, „Angels and Airplanes“, „Dimension Variable“), fotografische und collagenhafte Papierarbeiten und Wandmalereien, die vielfach erstmalig in Deutschland zu sehen sind und teils ortsspezifisch neu entworfen wurden.
Des Weiteren zeigt die Ausstellung seine zahlreichen Filme mit überraschend gegensätzlichen Bildsprachen, unter ihnen dokumentarische Szenen („Double Heads Matches“, „Dead Time“, „The Leash of the Dog That Was Longer Than His Life“), die Animation „Zooooooom“ (2006–2009), den ganz neuen choreografischen Film „Tracking Happiness“ (2009) und jene, die das Publikum vor rund fünf Jahren erstmalig auf das Werk Cantors aufmerksam machten: „The Landscape is Changing“, die Inszenierung einer städtischen Großdemonstration mit Spiegeltransparenten (2003) und „Deeparture“, die Aufnahme eines Wolfs und eines Hirschkalbs in einem weißen Raum, umeinander her streifend und lauernd, potentieller Täter, potentielles Opfer in einem endlosen Loop (2005).
Im städtischen Außenraum, auf der Grünfläche vor dem Museum Abteiberg wird das Werk „Color, Silent“ (2009) zu sehen sein: Ein blau-silberner Mercedes der deutschen Polizei, aus dessen Inneren ein immer wiederkehrendes Sound-Licht-Spektakel herausdringt: Das Martinshorn ist innen an die Decke montiert. Das Symbol der staatlichen Ordnungskraft ist eingestülpt, das Signal steckt wie ein Knebel im Auto, sein Ton gedämpft, Blaulicht wie eine Lichtorgel, jegliche Funktion in Frage gestellt.
Das Ausstellungsprojekt mit Mircea Cantor wird begleitet durch ein Buch, das Cantor selbst gestaltete und eine Retrospektive seiner gesamten Arbeit darstellt. Dieses Künstlerbuch wurde realisiert in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zürich und ist 2009 im Kehrer Verlag erschienen: 16,5 × 27 cm, 224 Seiten, 136 Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen, im Buchhandel über ISBN 978-3-86828-107-1, Buchhandelspreis 27 Euro.
PROGRAMM
4. Juli 2010, 14 Uhr
AUSSTELLUNGSGESPRÄCH mit Mircea Cantor
Die Ausstellung wurde realisiert in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zürich und der Kunsthalle Nürnberg und ermöglicht durch großzügige Förderung der Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung und der Hans Fries-Stiftung sowie der Sammlung Rheingold, deren Ankauf des Films „Deeparture“ im Jahr 2005 den Anfang für die Zusammenarbeit mit dem Künstler legte.